Mittwoch, 8. April 2020, von staromat

Der Montaghasser

Und weiter geht es mit dem Abtauchen in längst vergangene Zeiten und Geschichten! Die „heutige“ Erzählung handelt von einem leicht mürrischen Herren, welcher sich ziemlich offensichtlich von einer Cartoon-Katze aus den 80er Jahren hat inspirieren lassen.

Gehen wir gemeinsam zurück ins Jahr 1990. Nur 12 Monate nachdem mit meiner arg humorlosen Erzählung „Hintergrundbericht eines tragischen Unfalls“ zum ersten Mal ein eigener Text in einer grösseren Zeitung veröffentlicht wurde, stand bereits die nächste Austragung des Kurzgeschichten-Wettbewerbs des „Zürcher Unterländers“ an.

Der mittlerweile 18 Jahre alt gewordene Staromat packte die Chance beim Schopf und verfasste mit „Der Montaghasser“ ein zwar etwas geradliniges, aber doch um einiges unterhaltsameres Werk, welches erstmals auch deutlich autobiographische Züge erkennen liess.

Und siehe da! Die Geschichte wurde nicht nur veröffentlicht, sie wurde gar mit dem dritten Rang ausgezeichnet und im vollbesetzten Bülacher Sigristenkeller von einem professionellen Schauspieler vorgetragen! Im entsprechenden Zeitungsbericht dieser Veranstaltung glänzt auf dem Foto der „Sieger-Autoren“ jedoch meine Person durch vollkommene Abwesenheit (Auszug aus der Bildlegende: „Staromat als dritter Preisträger konnte an der Preisverleihung nicht teilnehmen“). Tja, der Herr Staromat stufte damals sein gleichzeitig stattfindendes 5.-Liga-Volleyballspiel gegen Birmensdorf als wichtiger ein.

Was soll ich sagen? Mit erst 18 Jahren auf dem Buckel hat man offensichtlich das Gefühl, dass solche Gelegenheiten im weiteren Leben noch haufenweise auf einen warten würden.

Drei Jahrzehnte später gelange ich zu der Einsicht, dass dies wohl eine katastrophale Fehleinschätzung war.

Amüsant in diesem Zusammenhang ist noch, dass es trotz meiner Abwesenheit bei der Preisverleihung ein Foto von mir vom exakt gleichen Abend in eine andere Zeitung geschafft hat. Im Regensdorfer „Furttaler“ wurde unser Volleyball-Matchbericht mit folgendem Bild versehen:

Starosmash 

Die Nummer 7 – das bin (war) ich! Wir gewannen auswärts mit 3:0! Smash Bumm Peng! Weg waren die Birmensdorfer!

Jetzt aber zurück zur Geschichte. Bevor der Montaghasser nun 30 Jahre später endlich auf euch losgelassen wird, noch kurz vorab das zur Geschichte veröffentlichtes Kurz-Portrait von damals:

Klein Staromat 2

Der Autor ist 18jährig, wohnt in Boppelsen und absolviert eine Schriftsetzerlehre. In der Freizeit liest er gern, spielt beim Volleyballclub Regensdorf und, wenn ihm ein wenig Zeit bleibt, „formt er seine im Kopf herumschwirrenden Gedanken zu Geschichten. Die Idee zu „Der Montaghasser“ fiel ihm eines Montagmorgens ein. Der Weg zur letzten Version sei allerdings ungewöhnlich „lang und holperig“ gewesen.

Der Montaghasser

Felix Kunze hasste vieles. Er hasste Pferde und Rollschuhfahrer, er hasste Jugendliche und Radiomoderatoren, er hasste Feministinnen und Politiker und er hasste die Arbeit in seinem Geschäft, welches er ebenfalls hasste.

Aber ganz besonders unausstehlich fand Felix Kunze Montage.

Montage waren vollkommen überflüssige Tage. Sie waren da, um sich mit dem Brotmesser zu verletzen oder um eine heisse Dusche von der Geschirrspülmaschine zu empfangen. Montage existierten, um wichtige Geburtstage zu vergessen oder um die Abfahrt öffentlicher Verkehrsmittel äusserst knapp zu verpassen. Vor allem jedoch waren Montage Inbegriff der Tatsache, dass nach einem viel zu kurzen Wochenende die Arbeit wieder aufgenommen werden musste.

Ja, Montage konnten wahrhaft grausam sein.

Wie ihr seht, war Felix Kunze, welcher von allen nur Kunze genannt wurde, ein Mensch wie du und ich. Als die Geschichte begann, war er Mitte vierzig, verdiente sein Geld in einem Treuhandbüro und wohnte in einem vornehmen Quartier von Zürich. Er arbeitete – wie bereits bekannt – nicht allzu gerne, liebte Sportsendungen und wäre wahrscheinlich niemals ins Interesse der Öffentlichkeit geraten, hätte er sich nicht dermassen fest gegen die Montage verschworen.

An einem Sonntag Abend vor etwas mehr als zehn Jahren sass Kunze wieder einmal alleine vor dem Bildschirm. Draussen regnete es, was ihn nicht besonders erheiterte. Seine Lieblingssendung „Sport am Wochenende“ war eben zu Ende gegangen und der Montag lag näher denn je. Sein Bier austrinkend, machte er sich auf den Weg zu seiner Schlafstätte, einem französischen Bett. Kunze hatte sich angewöhnt, Sonntags früh schlafen zu gehen, denn nur so konnte er noch lange im Bett liegen, ohne dass gleich sein Wecker losschrillte und ihn zu einem weiteren schweren Montag verdammte.

Meistens schlief Kunze dann aber trotz seiner Verstimmung tief und gut. Nicht jedoch in jener folgenschweren Nacht. Kunze wälzte sich in ständiger Ruhelosigkeit hin und her. Plötzlich war er nicht mehr imstande, etwas zu sehen oder sich zu bewegen. Alles vor seinen Augen war schwarz.

Natürlich war alles schwarz, werdet ihr jetzt denken, denn meistens wird ein Zimmer mitten in der Nacht nicht gerade mit Neonlampen ausgeleuchtet. Ich muss euch da aber erzählen, dass Kunze als kleines Kind eine tiefe Angst vor der Dunkelheit entwickelt hatte und dass ein kleiner Teil davon ihn auch als erwachsenen Mann noch dazu bewegte, die Tischlampe während der Nacht brennen zu lassen. So war das Zimmer also auch in jener Nacht leicht erhellt. Kunzes Sehvermögen blieb jedoch trotzdem weg.

Kunze wollte aufstehen, aber sein Körper hatte ihm jegliche Befehlsmacht entzogen. Er war nicht fähig, sich von der Stelle zu rühren. Dieser tranceähnliche Zustand dauerte, so schien ihm, unendlich lange an. Mit der Zeit vermutete Kunze, dass er eben dennoch eingeschlafen sein musste und dass es sich hierbei um den wohl abscheulichsten wie auch realistischsten Alptraum handeln musste, den er jemals gehabt hatte.

Nun denn, als Kunze schliesslich „aufwachte“, war es bereits 9 Uhr. Er hätte vor über einer Stunde im Büro sein müssen. Sein neuer Wecker hatte erstmals versagt.

„Typisch Montag“, ärgerte sich Kunze. Jetzt musste er wieder ein stundenlanges Kreuzverhör seines Chefs über sich ergehen lassen.

Eine halbe Stunde später überschritt er schon ziemlich erschöpft durch die morgendliche Hetzerei die Türschwelle des Treuhandbüros „Ehrlich & Co.“.

„Wo haben Sie denn bloss so lange gesteckt?“, wurde Kunze auch gleich von seinem Arbeitgeber mürrisch empfangen.

„Warum diese Aggressivität?“, erwiderte der Angeklagte. „Ich gebe zu, ich habe etwas verschlafen, aber so arg zu spät bin ich nun auch wieder nicht dran.“

„KUNZE!“, schrie sein Chef jetzt wie von Sinnen. „Dass Sie heute verschlafen haben, könnte ich akzeptieren, aber“, und die Wut seines Vorgesetzten steigerte sich hörbar, „wo zur Hölle waren Sie gestern?“

Mit einem Schlag war Kunzes Erschöpfung einer kompletten Verwirrung gewichen. Weshalb hätte er am gestrigen Sonntag arbeiten sollen? Hatte er eine diesbezügliche Anweisung verpasst?

Kunzes plötzliche Unsicherheit blieb auch seinem Chef nicht verborgen.

„Meine Güte, Kunze! Heute ist Dienstag, verdammt nochmal! Wo haben Sie gestern gesteckt? Wir konnten Sie nirgends erreichen!“

Und tatsächlich! Es war bereits Dienstag. Kunze hatte den ganzen Montag verpasst. Er musste seit Sonntag Abend ungefähr 36 Stunden am Stück durchgeschlafen haben! Kunze konnte sich das alles überhaupt nicht erklären. 

Es musste eine Krankheit sein! Kunze wurde im Universitätsspital Zürich untersucht. Geschlagene drei Stunden liess er alles Mögliche über sich ergehen. Neben einer Blutentnahme stand er für einen Röntgenapparat Modell und machte es sich für ein EKG auf einem Arztbett bequem. Als krönender Abschluss stand ein halbstündiges Gespräch mit einer  Psychiaterin auf dem Programm.

Das Resultat war gleich Null. Kunzes Gesundheitszustand war ausgezeichnet, einzig die Psychiaterin hatte einige Bemerkungen zu seiner geistigen Verfassung, welche jedoch in keinem Zusammenhang mit seinem Schlafproblem standen. Kunze blieb im Ungewissen.

Das unerklärliche Durchschlafen des Montags blieb jedoch ebenfalls.

Von jenem Tag an geriet Kunze jeden Sonntag Abend in diesen Zustand der vollkommenen Lethargie und erwachte erst wieder am darauf folgenden Dienstag. Alle Versuche, etwas dagegen zu unternehmen, scheiterten kläglich. Einmal gab er beispielsweise einer Nachbarin seinen Hausschlüssel. Sie solle ihn doch bitte am Montag Morgen wachrütteln. Doch selbst mit lauten Schreien und eher zaghaften Schlägen in Kunzes Schultergegend vermochte diese ihn nicht aus seinem Bärenschlaf wachtrommeln.

Wie wir alle wissen, besitzt die Spezies Mensch die Fähigkeit, sich an alles Erdenkliche zu gewöhnen. So erging es auch Kunze. Anfangs war er verständlicherweise sehr schockiert über diesen neuen, ungewohnten Ablauf seines Lebens. Nach etwa drei oder vier Monaten fand er jedoch nur noch diese komische nächtliche Unbeweglichkeit lästig. Nun wurde der Dienstag zu seinem ersten Arbeitstag in der Woche und – vielleicht ahnt ihr es schon – Kunze begann allmählich, statt des Montags nun den Dienstag zu verachten.

Und so kam es, wie es kommen musste. Kunze erwachte eines Tages plötzlich an einem Mittwoch!

Dies war natürlich erneut ein schwerer Schlag für ihn. Den Ernst der sich zuspitzenden Situation erkannte Kunze jedoch noch immer nicht.

Wollen wir einmal, wie es eben nur in Geschichten möglich ist, die Zeit wie im Fluge verstreichen lassen. Die Jahre kamen und gingen und Kunze war nicht imstande zu lernen, wie er das Schwinden der ungeliebten Tage bremsen konnte. Sicher, er zeigte ein wenig Einsicht. Als zum Beispiel der Donnerstag verloren ging und Kunze aus finanziellen Gründen neu auch Samstags und Sonntags zur Arbeit musste, nahm er sich fest vor, nun mit Sicherheit keine ärgerlichen Gefühle gegenüber dem Freitag zu entwickeln. Nur hielt dieser Vorsatz bloss solange, wie ungefähr der unsere hält, wenn wir wieder einmal nach einer qualvoll langen Zeit vom Stuhl des Zahnarztes erlöst werden und hoch und heilig schwören, nun wirklich niemals, NIEMALS wieder auch nur eine Sekunde weniger als drei Minuten lang die Zähne zu putzen.

Erstaunlicherweise fehlte Kunzes Körper überhaupt nichts, obwohl er dann im Alter von 52 Jahren sechs Tage pro Woche schlief und in dieser Zeit keinerlei Nahrungsmittel zu sich nehmen konnte. Er verbrachte seinen Wochenschlaf in einer Privatklinik, wo er sich Sonntags jeweils als Putzhilfe betätigte.

Kunze gefiel diese Arbeit überhaupt nicht. Er hasste das ewige Scheuern der Gänge und Reinigen der Fenster. Dies am einzigen Tag der Woche, welcher ihm noch verblieben war!

Und so musste eine Krankenschwester eines Sonntag Morgens feststellen, dass sich Patient Kunze auf Zimmer 37 um nichts auf der Welt mehr wecken liess. Im ersten Augenblick erschrak sie und dachte, Kunze sei über Nacht gestorben. Sein regelmässiges Atmen, welches von gelegentlichen Schnarchgeräuschen begleitet wurde, überzeugte sie dann allerdings vom Gegenteil.

Die herbeigerufenen Mediziner konnten nur das bereits Herausgefundene bestätigen. Kunze lebte zwar noch, er befand sich jedoch nun wie in einem ewig anhaltenden Koma. Für die Ärzte war dies kein grosses Problem. Der Ordnung halber untersuchten sie Kunze täglich und erhielten immer ungefähr die gleichen Werte.

Für Kunze sah die Sache schon wesentlich schlimmer aus. Er blieb nun ständig in dieser vollkommenen Dunkelheit und apathischen Trägheit gefangen. Kein Geräusch, keinen Geruch und auch kein Bild konnten seine Sinne empfangen.

Kunze war nun komplett in seiner verschlossenen Welt gefangen.

Oh, und wie er es zu hassen begann! Dieses Im-Dunkeln-Sein! Diese Unbeweglichkeit! Und ganz besonders diese Einsamkeit!

Ja, er verfluchte alles und jeden dafür, dass er hier so hilflos von allem ausgeschlossen war. Es war ihm sowas von zuwider…

Weder die zuständigen Ärzte noch jemand vom Pflege- oder Reinigungspersonal beobachteten Kunzes definitiven „Abgang“. Sein Bett wurde eines Morgens leer vorgefunden. Man ging von einer Wunderheilung mit anschliessender, verwirrter Flucht aus dem Krankenhaus aus. Ganze zwei Monate lang wurde Kunze noch erfolglos von der Polizei gesucht, danach legte man seinen Fall ad acta.

Einzig ein schwarzer Rabe, welcher im entscheidenden Moment durchs Krankenhausfenster auf Kunzes Bett blickte, hätte das Geschehen beschreiben können. Von einer Sekunde auf die andere verschwand Kunze für immer. Seine Decke blieb noch einen kurzen Augenblick in der Form seines darunter liegenden Körpers in der Luft schweben, danach sank sie fast geräuschlos auf das Laken nieder.

Doch der Rabe interessierte sich keineswegs für dieses Ereignis. Er begutachtete noch kurz das Blumenbeet vor Kunzes Fenster auf allfällig zu verspeisende Würmer und flog dann gemächlich weiter in Richtung seines Lieblingsbaumes.

Nun war Felix Kunze wirklich alleine.

In der Geschichtenkiste sammelt Staromat alte und neue Erzählungen aus der eigenen Feder.

Hier geht’s hinein in die Geschichten-Schatztruhe!

Hast du selbst eine Anregung für eine Geschichte? Eine Ausgangslage, ein Bild, ein Traum, ein Erlebnis? Mail an logoroe [ät] gmx.ch und wer weiss, vielleicht findet schon bald „deine“ Geschichte hier in die Kiste!

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