Dienstag, 24. März 2020, von staromat

Hintergrundbericht eines tragischen Unfalls

In Zeiten, in denen viel Zeit zur Verfügung steht, ist es an der Zeit, frühere Zeiten aufzuarbeiten. Ich für meinen Teil habe mich auf die Suche nach alten (und neuen) Geschichten von mir gemacht. Und bin sowas von fündig geworden! 

Beginnen möchte ich die neuste (und wohl ca. fünfhundertste) Logorö-Serie „Geschichtenkiste“ mit meiner allerersten „grösseren“ Publikation. Man schrieb das Jahr 1989 und Klein Staromat machte sich mit seinen süssen 17 Lenzen auf, den Literaturhorizont zu erreichen und selbstverständlich auch ordentlich zu erweitern.

Da kam der alljährliche Kurzgeschichten-Wettbewerb des „Zürcher Unterländers“ gerade recht. Eine aus heutiger Sicht vollkommen humorlose und absolut sinnfreie, aus damaliger Sicht prächtig düstere Geschichte musste her und siehe da! Sie wurde angenommen und veröffentlicht.

Und jetzt – mit 30jähriger Verzögerung – kommt auch ihr endlich „in den Genuss“ dieses Meisterwerkes. Doch vorab zuerst das damals zur Geschichte veröffentlichte Kurz-Portrait des „Autors“:

Klein Staromat

Der Autor ist 17jährig, wohnt in Boppelsen und versucht, wie er selbst sagt, den Aufgaben eines Typographen-Lehrlings nachzukommen. Daneben spielt er gerne Volleyball, liest Bücher oder geniesst ganz einfach die Freizeit. Die Kurzgeschichte entstand in einem Dorf im Aargau anlässlich eines Ferienaufenthalts bei den Grosseltern und hat ihren Ursprung in einem Gespräch mit einem Schulfreund, der – wie der Autor auch – ein „krankhafter“ Stephen-King-Leser ist.

Jetzt aber anschnallen, das Rauchen einstellen und hinein in diese wuchtige Geschichte! Viel Vergnügen!

Es gibt Leute, die Licht verbreiten. Und es gibt Leute, welche alles finster machen.

Hintergrundbericht eines tragischen Unfalls

Das Paket war gegen Mittag gekommen. Es wurde von einem jungen Kurier gebracht. Miriam bedankte sich und überreichte ihm zwei Mark Trinkgeld.

Der Gestank der Kurier-Honda war bereits lange der frischen Luft des wehenden Herbstwindes gewichen, als Miriam sich endlich wieder ins Innere ihres Hauses zurückzog. Sie stellte das kleine Paket auf den Küchentisch.

Es sah alt aus.

Miriam entfernte das Packpapier und hielt eine Schachtel in ihren Händen. Jemand hatte in grossen gotischen Buchstaben einen Satz darauf geschrieben:

„Ehrlichkeit ist nicht alles.“

Draussen begann es zu regnen. Ihr fröstelte.

Miriam öffnete die Schachtel. Eine Uhr lag darin. Eine sehr alte Uhr. In der Mitte des Zifferblattes stand in einer verschnörkelten Schrift ein Name: „Marwan Rozinak“. Weiter befanden sich an den ihnen zugeordneten Stellen die römischen Ziffern III, VI, IX und XII auf der Uhr. Beide Zeiger waren exakt um zwölf Uhr stehengeblieben.

Miriams linkes Handgelenk begann plötzlich zu schmerzen. Sie drehte die Uhr mehrmals in ihren Händen. Ihre linke Hand schien vor Schmerzen zu explodieren.

Sie zog die Uhr an.

Die Schmerzen verschwanden sofort.

Draussen regnete es nun schon sehr stark. Die Haustüre öffnete sich und ihr vom Regen durchnässter fünfjähriger Sohn Tobi stürzte herein. Schnell warf Miriam die Schachtel in den Abfalleimer. Jürg, ihr Ehemann, trat ebenfalls ein und schloss die Tür hinter sich. Verlegen zog Miriam den Ärmel ihres Pullovers über die Uhr.

„Hi Schatz“, rief Jürg. „Hi“, antwortete Miriam pflichtbewusst, aber freundlich. Tobi kam in die Küche.

„Na grosser Mann, was willst du denn hier in der Küche?“, fragte sie ihn. „Tobi will essen“, erklärte er. In der letzten Zeit sprach ihr Sohn immer öfter in der dritten Person von sich, was Miriam etwas verunsicherte. Sie gab ihm einen Schokoladenriegel und Tobi verschwand wieder. Die Sonne schickte bereits ihre letzten Strahlen durch das kleine Küchenfenster und…

„Hände hoch und keine falsche Bewegung!“

Tobi hatte den Fernseher eingeschaltet. Irgendein Western mit John Wayne lief gerade. Jürg kam auf Miriam zu und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange.

Der Wind heulte auf und ein Fensterladen im oberen Stock schlug gegen die Hausfassade. „Ich gehe ihn gleich schliessen“, versprach Jürg und entfernte sich nach oben. Im Wohnzimmer verteidigte John Wayne gerade eine Farmersiedlung gegen eine Horde angreifender Indianer.

„Peng! Peng!“, rief Tobi aufgeregt.

Das Telefon klingelte. Miriam lief ins Wohnzimmer und reduzierte unter heftigem Protest von Tobi mit der Fernbedienung John Waynes Lautstärke auf ein Minimun.

„Ja, hier ist Miriam Dutsche.“

„Guten Abend, Miriam, hier ist Roger.“

„Ah, hallo Roger, wie geht’s dir denn so?“

„Nun, es muss. Ich trage momentan eine leichte Grippe mit mir herum. Aber sag mal, hast du übernächstes Wochenende schon etwas vor?“

Miriam überlegte kurz. „Nein, ich glaube nicht. Warum denn?“ – „Nun, Angela und ich, wir wollen eine kleine Party veranstalten. Hättet ihr Lust zu kommen?“

„Aber sicher“, freute sich Miriam, „wir würden gerne mal wieder bei euch vorbeischauen.“

„Schön, Miriam, ich rufe euch dann nochmals an wegen der genauen Daten.“

„Bis dann, Roger, geniesse den schönen Abend noch.“ Miriam legte auf. Sie mochte Roger und Angela und sie freute sich bereits jetzt auf deren Party. Sie hörte gerade noch ein leises Ticken, bevor Tobi das Wort wieder an John Wayne übergab.

Die Uhr an ihrem Handgelenk lief plötzlich.

Und sie lief rückwärts.

Miriam bekam es mit der Angst zu tun. Sie wollte die Uhr abziehen und wegwerfen, doch als sie die Schnalle nur schon ein klein wenig gelockert hatte, durchfuhr sie sofort ein stechender Schmerz. Sie zog das Band gleich wieder fest. Die Uhr lief immer noch.

„Puh!“

Zwei kräftige Arme packten sie von hinten. Mit einem lauten Schrei fuhr Miriam herum.

„Geht’s dir nicht gut?“, fragte ihr ziemlich verstörter Ehemann leise.

„Doch, doch, es ist nur das Wetter. Ich habe etwas Angst vor dem Gewitter.“

Die Uhr tickte ein letztes Mal und blieb dann stehen.

„Na, na!“, meinte Jürg und gab ihr einen leichten Klaps auf den Hintern.

Ein lauter Donnerschlag unterbrach den letzten Willen eines sterbenden Farmers auf dem Fernseher. Tobi hatte Tränen in den Augen.

Dann bemerkte Jürg erstaunt die alte Uhr an Miriams Handgelenk.

„Wo hast du die denn aufgetrieben?“

Miriam zuckte leicht zusammen. „Ach, die hat mir Andi vorhin vorbeigebracht.“ Andi war ein guter Freund der Dutsches und Besitzer eines Trödelladens.

„Zeig mal her!“ Widerwillig hob Miriam ihren Arm hoch. „Sie läuft ja gar nicht“, stellte Jürg fest, „oder ist es bereits fünf Minuten vor Mitternacht?“

Miriam schluckte.

„Zieh sie bitte ab“, bat Jürg.

„Nein!“, entgegnete Miriam etwas zu laut. „Mir gefällt sie! Ich bin müde. Jürg, kannst du bitte Tobi heute ins Bett bringen? Ich gehe schon nach oben.“ Sie war bereits auf der Treppe, als Jürg sie nochmals fragte: „Gefällt dir die Uhr wirklich?“

„Ja sicher“, antwortete Miriam und ging hinauf. Jürg Dutsche glaubte irgendwie, dass seine Frau ihn heute zum ersten Mal in ihrer Ehe angelogen hatte.

Das Unwetter hatte sich verzogen und es regnete nur noch leicht. In der Ferne fuhr ein Zug vorbei. Miriam legte sich ins Bett und zog die Decke über sich. Die Zeiger der Uhr standen noch immer auf fünf Minuten vor zwölf. Sie dachte wieder an die Nachricht auf dem Paket.

„Ehrlichkeit ist nicht alles.“

Jürg schlich sich ins Zimmer. „Schläfst du schon, Liebling?“

„Nein, noch nicht“, murmelte Miriam leise und spürte, wie die Uhr unter der Decke fast unhörbar zu ticken begann. Jürg zog sich aus und stieg zu ihr ins Bett. Stille beherrschte das Zimmer.

„Was bedrückt dich?“, erkundigte sich Jürg zärtlich.

„Nichts“, sagte Miriam und nur ihr fiel auf, dass ihre Uhr wieder still geworden war. „Ich möchte schlafen.“

„Nun gut, ich wünsche dir eine gute Nacht, Schatz.“

„Ich dir auch“, entgegnete Miriam und dieses Mal bemerkte niemand, wie sich die Zeiger der Uhr in diesem Augenblick wieder in Bewegung begaben.

Der nächste Tag begann ruhig. die Beatles besangen gerade ihr gelbes Unterseeboot, als der Radiowecker der Dutsches mit einsetzte.

„Morgen, Schatz“, flüsterte Jürg.

„Hi“, sprach Miriam mehr schlafend als wach. Tina Turner wollte die Beatles gerade ablösen, als Jürg sie mit der Stopptaste des Weckers verstummen liess.

„Ich muss heute früh raus. Willst du auch einen Kaffee?“

Miriam räkelte sich. „Ja gerne, aber ohne Zucker, Liebling.“

„Ich weiss“, sprach Jürg, welcher sich bereits auf der Treppe nach unten befand. Miriam drehte sich und blickte auf ihre Uhr. Eisige Kälte umhüllte sie. Die Uhr zeigte Viertel vor drei, aber es war nicht die Zeit, die sie so erschreckte.

Die römischen Ziffern waren alle weg! Sie waren einfach verschwunden! Anstelle der 12 befand sich eine grosse Null. Auch der Name in der Mitte hatte sich verändert. Nun stand dort nicht mehr „Marwan Rozinak“, sondern „Miriam Dutinak“. Sie rieb sich die Augen und schaute nochmals auf den Namen. Das „i“ im zweiten Wort verformte sich langsam in ein „s“.

„Miriam Dutsnak“

Und plötzlich erkannte sie das schreckliche Geheimnis der Uhr. Sie wusste es einfach.

Wenn beide Zeiger der Uhr bei Null ankamen, würde in der Mitte ihr vollständiger Name stehen und das würde ihrem Leben ein sofortiges Ende bereiten. Miriam war sich ganz sicher. Aber warum blieb die Uhr denn willkürlich stehen?

„Ehrlichkeit ist nicht alles.“

Oh Gott!

Die Uhr begann zu laufen, als sie Roger gestern am Telefon sagte, sie freue sich auf die Party. Was stimmte. Sie stoppte, als Miriam Jürg vorlog, sie hätte Angst vor dem Gewitter. Sie lief jedoch wieder, als sie dann Jürgs Frage, ob sie schon schlafe, wahrheitsgemäss verneinte. Später hielten die Zeiger wieder an, als Miriam erklärte, sie bedrücke nichts und das Ganze musste wieder ins Rollen gekommen sein, als Miriam Jürg eine gute Nacht wünschte.

„Ehrlichkeit ist nicht alles.“

Verflucht, sie würde sterben, wenn sie die Uhr nicht wieder stoppen konnte. Und dann tat Miriam so ziemlich das Dümmste, was sie in dieser Situation tun konnte.

Sie fiel in Ohnmacht.

Als Jürg Dutsche sah, dass seine Angetraute wieder eingenickt war, schlich er sich an ihr Bett und gab ihr einen sanften Kuss auf ihre Stirn. Den Kaffee würde er provokativ auf dem Küchentisch stehenlassen. Und obwohl Jürg seine Frau in diesem Moment zum letzten Mal lebend sah, drehte er sich nicht einmal zu ihr um, als er zur Tür hinausging.

Irgendwann begann Tobi in seinem Zimmer mit seinen Autos zu spielen und Miriam kam wieder zu sich. Mit schrecklicher Genauigkeit erinnerte sie sich sofort wieder an alles.

„Ehrlichkeit ist nicht alles.“

Sie schaute auf ihre Uhr. Nur noch eine Viertelstunde! Miriam Dutsche, du hast nun nicht mehr länger als 15 Minuten zu leben!

Sie musste die Uhr irgendwie anhalten. Sie musste eine Lüge aussprechen. Es war jetzt zehn Uhr und der Nebel umhüllte ihr Haus. Nervös sprang Miriam die Treppe hinunter. Eine Lüge, schnell eine Lüge!

Miriam bremste abrupt ab und dachte nach. Dann sprach sie langsam aber laut zum Treppengeländer: „Ich werde diese Sache nicht überleben!“

Ängstlich senkte Miriam ihren Kopf.

Tick…tick…tick…

Noch zehn Minuten. Es war keine Lüge gewesen! Die Uhr lief weiter.

Oh mein Gott!

Sie würde sterben. Sie würde bereits den heutigen Abend nicht mehr erleben. Miriam rannte schreiend aus dem Haus. Im Kinderzimmer begann Tobi zu weinen. Er schluchzte noch immer, als Jürg ihn dort zwei Stunden später, als alles bereits sein Ende gefunden hatte, in die Arme nahm.

Miriam war keine sportliche Frau. Dennoch sprachen Zeugen später davon, dass eine Irre wie wild in ihrem Nachthemd an ihnen vorbeigeflitzt wäre. Miriam rannte noch immer schreiend durch den Nebel. Sie lief über mehrere Strassen, ohne von einem Wagen angefahren zu werden. Als Miriam die Zuglinie nach Nürnberg überquerte, bog sie plötzlich links ab und folgte den Geleisen. Weder die Polizei noch Jürg konnten sich später erklären weshalb. Miriam hätte es wahrscheinlich auch nicht gekonnt. Der Nebel war nun so dicht, dass sie nicht viel weiter als bis zu ihren Fussspitzen sehen konnte.

Hören konnte sie jedoch noch immer sehr gut. Und nun ratterte ein Zug leise weit hinter ihr. Doch das Geräusch wurde lauter.

„Was tue ich hier?“, fragte sie sich plötzlich. „Mein Gott, was in aller Welt soll das?“

Miriam war noch immer in Bewegung, als der Zug sie von hinten erfasste. Erwin, der Zugführer, wiederholte später immer wieder, er habe zwar etwas aufschlagen gehört, was es gewesen sei, habe er jedoch bei diesem gottverdammten Nebel nicht sehen können.

Miriam klatschte mit dem Gesicht nach unten auf den schlammigen Boden. Sie war in einen Graben geflogen. Es fiel ihr schwer zu atmen. Sie überlegte noch immer, wie sie denn bloss hierher gekommen war, als alles auf einmal schwarz wurde.

Die Uhr gab ein letztes Ticken von sich, der Minutenzeiger schwang auf Null und das seltsame Gerät an Miriam Dutsches Handgelenk löste sich in Luft auf.

Der Wind wehte leise und wenn man sich sehr konzentrierte, konnte man weit entfernt das Geräusch eines fahrenden Zuges hören.

Vielleicht sollte man noch erwähnen, dass zur gleichen Zeit an einem ganz anderen Ort ein Kurier den Auftrag erhielt, ein altes Paket an eine bestimmte Adresse zu liefern.

In der Geschichtenkiste sammelt Staromat alte und neue Erzählungen aus der eigenen Feder.

Hier geht’s hinein in die Geschichten-Schatztruhe!

Hast du selbst eine Anregung für eine Geschichte? Eine Ausgangslage, ein Bild, ein Traum, ein Erlebnis? Mail an logoroe [ät] gmx.ch und wer weiss, vielleicht findet schon bald „deine“ Geschichte hier in die Kiste!

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