Samstag, 6. August 2022, von staromat

Der alte Mann und das Meer

Seit meiner Jugend träume ich davon, ein Buch zu schreiben, doch in all den Jahren ist es mir noch kein einziges Mal gelungen, mit einem fertigen Exemplar in den Händen aufzuwachen. Sind Träume doch Schäume und Ziele, die man nie erreicht, bloss falsch gesetzte Ambitionen?

An der letzten Klassenzusammenkunft traf ich auf alle Fälle auf eine ehemalige Schulkollegin, welche mich in diesem Punkt links und rechts überholt hat. Sie sei gerade daran, ihr zweites Buch zu vollenden, welches bald als ihr Débutroman veröffentlicht werden würde, da sich ihr erstes, bereits geschriebenes Buch eher als Folgewerk eigne. An dieser Stelle habe ich etwas den Überblick verloren, aber Hey! Sie hat mich überflügelt und da gilt es, einfach einmal die Klappe zu halten und zuzuhören.

Als kleinen Tipp gab sie mir auf den Weg, einfach jeden Tag 15 Minuten zu schreiben. Egal was und egal, ob es Sinn mache oder nicht. Einfach schreiben.

Dabei erinnerte ich mich an meinen Blog und eine uralte Idee, die schon längst auf ihre Umsetzung wartet. Oft passiert es mir beim Betrachten von Fotos und Bildern, dass meine Phantasie sich selbständig macht und eine kleine Story zu den Bildern kreiert. Was waren die Umstände, dass es genau zu diesem Foto kam. Was passierte davor? Danach?

Gedacht, getan. Meine ersten 15 Minuten Tagesschreiben habe ich in ein von mir geschossenes Foto aus dem soeben beendeten Bretagne-Urlaub investiert.

Viel Vergnügen!

Bildergeschichten
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Der alte Mann und das Meer

Wie jeden Tag sitzt Bertrand auch heute auf seiner Bank und blickt hinaus aufs Meer. Wobei damit eigentlich einzig die Richtung gemeint ist, in welche er seinen Kopf hält. Wirklich betrachtet hat er das Geschehen vor sich seit ewiger Zeit nicht mehr. Seine ohnehin nicht mehr taufrischen Augen stellen auf nichts scharf. Nicht auf den Horizont, nicht auf die kleine Sandinsel vor ihm, nicht auf die spärlich vorbeiziehenden Strandspaziergänger*innen. Seit 87 Jahren lebt Bertrand in seinem kleinen Dorf hier in der Bretagne. Und seit 87 Jahren war es da, das Meer. Manchmal etwas stürmischer, launischer, meist jedoch ruhig und unaufgeregt. So wie heute.

Bertrand konnte den Fotografierwahn der Touristen noch nie nachvollziehen. Kaum kamen sie den schmalen Weg über die Düne und erblickten zum ersten Mal das Blau das Meeres, zogen sie wie Revolverhelden sofort ihre Smartphones und begannen wild drauflos zu klicken. Begleitet von „Wow!“ und „Wahnsinn!“ und „Unglaublich!“, jeweils ausgerufen in ihren Herkunftssprachen. Danach betrachteten sie ihre Bilder kurz auf den Displays und fotografierten zügig weiter.

Das Affentheater der Ortsfremden war Betrand eindeutig zu laut, hektisch und langweilig. Nur der Zufall wollte es, dass er doch noch einen für ihn mehr als erträglichen Zugang zu der Sache fand. Eines Tages vor ungefähr fünf Jahren sass er mit seiner Enkelin Lilou genau auf dieser Bank und auch damals achteten weder er noch Lilou auf das Meer. Bei Bertrand sind die Gründe bereits bekannt und Lilou, nun Lilou war 15 und betrachtete das Meer höchstens auf dem Bildschirm ihres Mobiltelefones. Und genau auf einem solchen schob sie damals gelangweilt mit ihrem Zeigefinger irgendwelche Bilder oder Videoclips nach oben, als sie auf einmal aufgeregt und wild gestikulierend ihren Grossvater anrempelte.

„Pépère! Pépère! Du bist auf Instagram“, schrie Lilou lauthals und Betrand wäre fast von der Bank gekippt, hätte Lilou ihn nicht im letzten Moment zurückgehalten.

„Ich bin auf Instawas?“ fragte Bertrand irritiert und wurde von seiner aufgewühlten Enkelin aufgeklärt. Offenbar hatte ein bekannter Influencer ihn unbemerkt von hinten fotografiert und dieses Bild mit jeder Menge Hashtags verlinkt auf seiner Seite hochgeladen. Gemäss Lilou hatte das Bild bereits über 10’000 Likes, worunter sich ihr Grossvater jedoch nicht allzu viel vorstellen konnte.

Dennoch veränderte dies Bertrands Auf-seiner-Bank-Sitzen von Grund auf. Bereits in den darauffolgenden Tagen erkannte er, dass sich nicht nur besagter Influencer an seiner Rückenansicht erfreute, sondern dass mehr als die Hälfte der auf der Düne hinter ihm durchspazierenden Touristen zum Stillstand kamen und ihn ablichteten. Selbstverständlich ungefragt und unbezahlt. Bertrand wurde zum Star Hunderter virtueller Fotoalben auf der ganzen Welt. In England, Holland, Japan, der Schweiz – überall prahlten die Frechdachse mit „seinem“ Bild!

Ein Effekt, welchen Bertrand noch verstärken konnte.

Stellte er nämlich das Damenfahrrad seiner verstorbenen Frau keck hinter seine Bank, wurde das Sujet für die Paparazzis offenbar noch interessanter. Die optimalste Anziehungskraft erzielte er, wenn es ihm gelang, zusammen mit seiner 92jährigen Nachbarin Géraldine auf der Bank zu verweilen. Wenn er dann noch, von Géraldine unbemerkt, behutsam einen Arm hinter sie auf die Banklehne legte, sodass es aussah, als würde er Géraldine im Arm halten, gab es kein Halten mehr. Teilweise balgten sich bis zu zehn Fotograf*innen gleichzeitig um die Plätze mit den besten Aufnahmewinkeln.

Und als seine Lilou bald darauf begeistert eine Lehre als Informatikerin begann und mit einer von ihr programmierten Bilder-Software das Internet genau nach dem Sujet Alter-Mann-auf-Bank-vor-dem-Meer, kombiniert mit der Standortangabe Guilvinec, durchsuchen konnte, begann sich die Geschichte endlich auszuzahlen. In zu Beginn höflichem Mailton erinnerte Lilou die Influencer*innen an das in Frankreich geschützte Recht am eigenen Bild – obwohl sie weder eine Ahnung hatte, ob dem wirklich so sei, noch Lust darauf, dies seriös zu recherchieren.

Doch wahrhaftig! Nicht wenige der angesprochenen Personen zeigten sich willig, per Paypal, Twint oder Western-Union teilweise gewichtige Summen zu überweisen. Gelder, welche Lilou natürlich schön hälftig mit ihrem Pépère aufteilte. Einzig die arme Géraldine sah kein Zehncentstück davon.

Was dieser jedoch nicht das Geringste ausmachte, sass sie doch äusserst gerne neben Bertrand auf der Bank. Vor allem dann, wenn er zaghaft seinen Arm hinter ihren Rücken legte und dabei tatsächlich das Gefühl hatte, sie würde dies nicht mitbekommen.

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