Sonntag, 10. Januar 2021, von staromat

Im Zimmer

Das Zusammentragen meiner alten Kurzgeschichten hier auf Logorö hat mich im letzten Frühling gleich zu einer neuen Erzählung motiviert, mit welcher ich voller Hoffnung an einem Schreibwettbewerb einer Österreichischen Kleinstadt teilnahm.

Das Thema des Kurzgeschichten-Wettbewerbs lautete „SCHRITTweise“ und ich versuchte dieses umzusetzen, indem ich mir Gedanken machte, in welchen Etappen eine Geschichte im Kopf der Leserin, des Lesers entsteht und wie diese wieder entschwindet.

Um es gleich vorweg zu nehmen. Mein nachfolgender Beitrag landete fern aller Preisränge. Vermutlich unter anderem deshalb, weil in meiner Geschichte eigentlich rein gar nichts geschieht. Aber der olympische Gedanke und die Tatsache, endlich wieder einmal etwas Neues geschaffen zu haben, genügten mir hier vollkommen.

 

Im Zimmer

Am Anfang jeder Geschichte steht das Nichts. Ein weisses Blatt Papier, ein leerer Bildschirm. Die lesende Person besitzt keinerlei Vorstellung, wohin die kommenden Zeilen sie führen werden. Alles ist möglich. Es könnte in einen dichten Dschungel gehen, auf schneebedeckte Berge oder in eine lärmende Fabrik. Die Erzählung könnte zum Lachen anregen oder von einer unglücklichen Liebe erzählen. Vielleicht weckt sie tief verborgene Erinnerungen, hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck. Womöglich wird sie nicht einmal zu Ende gelesen.

Für diese Erzählung genügt ein einziger Raum, ein Zimmer. Diesen Bereich wird die Geschichte zu keiner Zeit verlassen, wir können uns somit getrost Zeit für dessen Schilderung nehmen. Die vorhandenen Möbelstücke sind spärlich. Ein Schrank, ein Schreibtisch, ein Büchergestell, ein Bett, ein Sessel. Die Bettbezüge sind mit rosa Herzmotiven bedruckt, darüber liegen Zierkissen. Mehrere mit Farbstiften gefertigte Zeichnungen von Pferden sind an den Wänden befestigt. Der Sessel sieht sehr bequem aus.

Nun betritt die erste Person das Zimmer und die Geschichte. Es handelt sich um einen ungefähr 50jährigen Mann mit schütterem Haar, leicht übergewichtig. Er verbringt einen grossen Teil seiner Zeit in diesem Zimmer. Meist sitzt er am Schreibtisch und liest. Jeden Abend nimmt er ein Album aus dem Regal und blättert gedankenverloren darin. Immer wieder streicht er mit seinen Fingern liebevoll über die einzelnen Seiten. Was sich im Album befindet, bleibt für uns verborgen. Der Mann hält das Album so, dass nur er selbst hineinblicken kann.

Verlässt der Mann das Zimmer, verbleiben wir darin. Allein aufgrund von Geräuschen können wir deuten, mit was der Mann sich in der Wohnung beschäftigt. Sprechen hören wir ihn nie.

Wenn es dunkel wird, bleibt das Zimmer leer. Der Mann schläft nicht im Bett mit den Zierkissen. Verlässt er die Wohnung, bleiben wir für lange Zeit im Zimmer, ohne dass etwas geschieht. Vermutlich geht der Mann in dieser Zeit einer Arbeit nach, wir werden es nie erfahren.

Fünf Tage lang spielt sich all dies unverändert ab. Am sechsten Tag nehmen wir zum ersten Mal Stimmen wahr. Zwei Stimmen. Diejenige des Mannes ist tief und sehr angenehm. Die zweite Stimme ist weiblich, sie klingt unbeschwert, vielleicht etwas zaghaft. Der Mann betritt mit einer Begleiterin das Zimmer. Diese sitzt in einem Rollstuhl, der Mann schiebt ihn neben das Bett und hebt die Frau behutsam in den Sessel. Sie ist etwa gleich alt wie der Mann, in ihrem Haar zeigen sich vereinzelte graue Strähnen.

Dann setzt sich der Mann an den Schreibtisch, nimmt ein Buch aus dem Gestell und liest der Frau daraus vor. Sie lauscht gebannt seinen Worten. Immer wieder betrachten die beiden gemeinsam die farbigen Illustrationen aus dem Buch. Die Augen der Frau leuchten vor Freude. Sie hat ein Kissen in den Arm genommen und drückt es fest an ihre Brust. Manchmal rinnt etwas Speichel aus ihrem Mund und tropft auf das Kissen. Es scheint weder die Frau noch den Mann zu stören. Die beiden wirken untrennbar verbunden, zusammengehörend.

Nach einer Weile blickt der Mann auf seine Uhr und schliesst das Buch. Die Frau bittet ausgiebig, er möge weiter vorlesen, doch der Mann bleibt entschlossen. Er nimmt sie bei der Hand und führt sie aus dem Zimmer. Wenig später vernehmen wir Essensgeräusche. Dabei führen die beiden eine angeregte Unterhaltung. Es wird viel gelacht.

Die anschliessende Nacht verbringt die Frau im Zimmer. Alleine. Der Mann bringt sie zu Bett, deckt sie liebevoll zu und verabschiedet sich mit einem Kuss auf ihre Stirn. Am nächsten Morgen verlassen beide die Wohnung und der Mann kehrt ohne die Frau zurück. Ihr Besuch wird sich in regelmässigen Abständen auf die gleiche Art und Weise wiederholen.

Manchmal, wenn der Mann alleine im Zimmer ist, legt er sich kurz auf das Bett, streicht über die Decke, nimmt eines der Kissen in die Arme. Dabei wirkt er schwermütig, niedergeschlagen. In seinen Augen bilden sich Tränen. Mit dem Handrücken wischt der Mann sie weg und verlässt das Zimmer hastig.

Die Erzählung rollt nun unbarmherzig ihrem Ende entgegen. Es verbleiben nur noch wenige Absätze, welche der Geschichte des Mannes, der Frau und des Zimmers ihre letzte Form verleihen können. Werden wir Antworten auf unsere Fragen erhalten? Werden uns diese zufriedenstellen?

Es ist Nacht und das Zimmer verlassen. Durch das geöffnete Fenster wirft eine Strassenlaterne etwas Licht in den Raum. Draussen wird der Wind stärker. Mit einem Mal bemerken wir, dass das Album aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegt. Die ersten beiden Seiten sind zu sehen, beide leer, doch zum allerersten Mal überhaupt erhalten wir Einblick in das Album. Es muss der Schlüssel zur Geschichte sein, doch öffnet dieser auch alle Türen?

Die Seiten des Albums beginnen sich im Wind zu heben. Gespannt sehen wir nur noch den Tisch, das Fenster, das Album. Dann fällt der erste Bogen Papier auf die andere Seite und nun sehen wir sie. Eingeklebte Fotographien. Alte Aufnahmen. Sehr alte. Der Wind blättert eine Seite nach der anderen um, immer mehr Bilder kommen zum Vorschein. Alle zeigen sie dieselben zwei Personen. Zwei Kinder. Ein Junge und ein Mädchen. Sie befinden sich auf einem Spielplatz, in einem Wohnzimmer, in einem Garten. Ein Bild zeigt beide vor einem Weihnachtsbaum. Auf den Fotos kümmert sich der Knabe liebevoll um das Mädchen, auf einigen liest er ihr aus Büchern vor. Die beiden Kinder sehen sich sehr ähnlich, aber auch dem Mann und der Frau.

Noch bevor der Mann das Zimmer wieder betritt und sowohl das Fenster wie auch das Album schliesst, entlässt uns die Geschichte zurück in die Leere. Die Bilder im Kopf des Lesenden, sie sind nun festgelegt, doch können sie richtig zugeordnet werden? Gibt es hier überhaupt ein Richtig und ein Falsch?

Dies verbleibt Sache des Betrachters. Der Mann und die Frau, sie sind weg. Ebenso das Zimmer, das Album, das Mädchen und der Junge. Soeben aus dem Nichts erschaffen, entschwinden sie wieder zurück in dasselbe.

In der Geschichtenkiste sammelt Staromat alte und neue Erzählungen aus der eigenen Feder.

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