Montag, 13. April 2020, von staromat

Neu Erwachen

Für die Hauptperson der heutigen Kurzgeschichte wird von einem Tag auf den anderen alles anders. Genau so („alles wird anders“) lautete auch der Wettbewerbs-Titel der Suchtpräventionsstelle Zürich, in dessen Rahmen die Story im Jahr 2000 den Weg in ein gedrucktes Büchlein fand.  

 

Neu Erwachen

Als Andreas erwachte, war sein Kopf ein einziger Klumpen Schmerz. Vorsichtig berührte er mit der Handfläche seine Stirn. Sie fühlte sich eigenartig warm an.

Dann geschah es.

Andreas drehte sich langsam zur Seite und sah durch das Fenster die aufgehende Sonne. Sein Herz begann rasend schnell zu schlagen, die Kopfschmerzen waren wie weggeblasen.

Die angenehme Wärme auf seinem Gesicht kannte Andreas, seit er sich erinnern konnte, der Anblick des morgendlichen Geschehens war jedoch Neuland für ihn.

Andreas war seit Geburt blind.

Nun aber konnte er in aller Schärfe erkennen, wie sich über den Dächern der Nachbarhäuser die ersten Sonnenstrahlen bündelten und eine immense Helligkeit verbreiteten. Er sah in der Ferne die schneebedeckten Berge, erblickte zwei schwarze Vögel, welche am Himmel ihre Kreise zogen, betrachtete eine junge Frau, die auf dem Trottoir vor seinem Haus einen Kinderwagen vor sich her schob.  

Andreas sass auf und sofort überfiel ihn ein starkes Schwindelgefühl. Auf seinem Nachttisch lag das aufgeschlagene Braille-Buch, in welchem er gestern noch gelesen hatte. Andreas musterte fasziniert die vielen Punkte auf dem Papier, welche scheinbar willkürlich über die Seite verteilt waren. Sie sahen so perfekt, so rund aus. Andreas fuhr mit dem Finger über eine Zeile und las diese automatisch, wie in einer Art Trance.

Als er sich von der Bettkante erhob, trottete Cäsar verschlafen auf ihn zu. Wie eigenartig sein Führhund aussah. Andreas bückte sich und strich ihm über den Rücken, halb aus Gewohnheit, halb um sich zu vergewissern, dass dies wirklich sein geliebter Labrador war. Sofort legte sich Cäsar freudig auf den Rücken und streckte Andreas den Bauch zum Streicheln entgegen. Offenbar schien der heutige Morgen für seinen Blindenhund nichts Ungewöhnliches zu beinhalten.

Nicht so jedoch für Andreas. Zum ersten Mal seit langer Zeit bekundete er Mühe, sich in seiner Wohnung zurechtzufinden. Vorsichtig stieg er die Treppe hinunter und setzte sich an den Küchentisch. Dass ihm das Fenster des Mikrowellenofens sein Spiegelbild zeigte, bemerkte Andreas erst gar nicht. Danach wechselte er rasch auf die andere Seite des Tisches.

Das konnte warten.

Andreas war ohnehin schon ziemlich überfordert von all den neuen Eindrücken. Sein Puls schlug noch immer deutlich schneller als gewohnt. Er atmete mehrere Züge lang ruhig und konzentriert und versuchte sich auf diese Art zu beruhigen.

Dann wurde er gepackt von einer enormen Wissbegier. Wie sah wohl sein kleiner Vorgarten aus? Würde er die nette Frau Derungs von nebenan noch immer an ihrem dezenten Parfüm erkennen? Spielten die Kinder im Park wirklich die Spiele, die er anhand der aufgeschnappten Geräusche und Sätze jeweils angenommen hatte.

Andreas eilte in sein Zimmer, öffnete den Kleiderschrank und zog sich hastig an. Dabei fiel ihm gar nicht auf, dass er auch jetzt noch auf die fühlbaren Markierungen achtete, welche die farblich zusammenpassenden Kleidungsstücke kennzeichneten.

Anschliessend legte er Cäsar, da er keine normale Hundeleine im Haus hatte, das Führgeschirr an, öffnete beherzt die Wohnungstür und ging hinaus in den neuen Tag.

In der Geschichtenkiste sammelt Staromat alte und neue Erzählungen aus der eigenen Feder.

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