Dienstag, 16. Oktober 2012, von staromat

Die Armee der alten Frauen

Den grössten Teil des Tages verbringen wir Büromenschen vor dem Computer. Ausserhalb der Arbeitszeit wäre uns eigentlich etwas Ablenkung vom Alltag zu gönnen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Sei es im Tram, im Café oder auf einem öffentlichen Platz – überall befindet sich jemand mit einem Laptop, Smartphone oder Tablet-PC in der Nähe. Die Welt ist ein einziges Grossraumbüro geworden.

Früher war alles noch in Ordnung. Der Sekretär, der vor 50 Jahren von der Arbeit nach Hause fuhr, musste nicht unbedingt damit rechnen, dass der Sitznachbar im Zugsabteil eine Hermes Schreibmaschine auf den Schoss nahm und ihn damit an seine Arbeit erinnerte. Andere Berufsgruppen kennen dieses Problem auch 2012 noch nicht. Der Gärtner kann davon ausgehen, dass am Nebentisch im Café keine Bäume gepflanzt werden, der Landwirt fährt selten mit 30 Kühen im gleichen Tram.

Da ich jedoch die Zeit nicht zurückdrehen kann und auch keine berufliche Umschulung ins Auge fassen möchte, muss eine andere Lösung gefunden werden. Und hier setzt mein Projekt „Die Armee der alten Frauen“ an.

Vielen älteren Menschen fehlt eine Funktion in ihrem Leben. Sie fühlen sich von der Gesellschaft ausgeschlossen, von ihr nicht mehr gebraucht. Sie sehnen sich nach einer Aufgabe, nach einer Berufung. Ihnen kann geholfen werden.

In einem ersten Schritt werden in Altersheimen und Seniorensiedlungen rüstige Ladys rekrutiert. Nach einem kurzen Ausbildungs-Camp werden sie zu zweit oder in kleinen Gruppen auf die Öffentlichkeit losgelassen. Dort unterhalten sie sich – um nicht aufzufallen – über die üblichen Rentner-Themen (Jugenderinnerungen, Operationen, Sven Epiney) und warten, bis jemand in der Nähe ein elektronisches Gadget zückt.

Dann schlagen sie zu! Und zwar wortwörtlich. Mit lauten Schreien (textlich lassen wir unserer Belegschaft die volle künstlerische Freiheit) dreschen die alten Damen mit ihren Handtaschen auf den Störenfried ein, bis das technische Gerät weggepackt oder defekt ist. Danach setzen sich die Guerilla-Omas auf ihre Plätze zurück und führen ihre Konversation unaufgeregt fort.

Verletzungen sind zum grössten Teil ausgeschlossen. Die Damen sind mit weich gepolsterten Handtaschen ausgestattet und dass sich Angegriffene gegen alte Frauen zur Wehr setzen, ist eher unwahrscheinlich und gehört ins Kapitel der unvermeidlichen Kollateralschäden.

Sollte eine angegriffene Person gerichtlich gegen die alten Frauen vorgehen, behaupten diese einstimmig, dass sie selbst belästigt worden wären – was im grossen Ganzen nicht einmal gelogen ist – und sie sich nur entsprechend verteidigt hätten.

Der Gesamtaufwand des Projekts hält sich in Grenzen. Für eine Stadt in der Grössenordnung von Zürich reichen ungefähr 50 Rentnerinnen. Nach zwei bis drei Wochen ist die erste Phase abgeschlossen. Die lokalen Medien haben darüber berichtet, jeder kennt mindestens einen Zeugen oder ein Opfer einer solchen Aktion. Die Angst ist perfekt gesät.

Nun genügen vereinzelte Repetitions-Angriffe, um das Thema im Gespräch zu halten. Ansonsten setzt man auf die überalterte Gesellschaft. Überall im öffentlichen Leben befindet sich immer mindestens eine ältere Dame mit Handtasche. Ob diese Teil der „Armee der alten Frauen“ ist oder nicht, spielt keine Rolle. Allein ihre Anwesenheit wird ausreichen, die Digitalisierung des öffentlichen Lebens massiv einzuschränken und uns Büromenschen damit einen Teil unserer Freiheit zurückzugeben.

Als positiver Nebenaspekt wird mit diesem Projekt auch den älteren Menschen mehr Abwechslung z.B. im Heimalltag geboten. Können sie sich doch nun überlegen, ob sie denn heute ins Töpfern, ins Aquarell-Malen oder ins Handtäschli-Hauen gehen wollen.

Die Kolumne „Vor dem Büro“ erschien von 2009 bis 2013 in der Letzten Pendenz, dem Mitarbeiter-Magazin der Staatsanwaltschaft Zürich. Staromat schilderte darin die Welt der Justiz aus den Augen einer männlichen Sekretärin.

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