Meine persönliche Inspektion
Während der Staatsanwalt* im Frühling und im Herbst hübsch angezogen in seinem Büro sitzt und angespannt auf den Leitenden Staatsanwalt respektive auf dessen Inspizierung der pendenten Fälle wartet, steht für mich jeweils beim Jahreswechsel eine ganz spezielle Inspektion auf dem Programm: Mein Jahres-Beziehungs-Stichtag.
Als nicht eben moderner Zeitgenosse verwalte ich meine Adressen und Telefonnummern weder in einem Mobiltelefon noch auf Facebook, sondern fein säuberlich von Hand eingetragen in einer (physischen) Agenda. Kommt ein neues Jahr und mit diesem eine neue Agenda, steht für alle meine Freunde eine knallharte Prüfung bevor. Wer von ihnen schafft es ins nächste Jahr? Wer bleibt auf der Strecke, beziehungsweise in der alten Agenda?
Einige bevorzugte VIP-Nummern (Familie, Pizzakurier, Coiffeuse) werden jeweils ohne Nachdenken automatisch übertragen. Bei anderen hingegen gerate ich ins Grübeln. Es handelt sich dabei um Personen, welche ich seit Jahren stets mitgenommen habe, obwohl ich mit diesen auch im abgelaufenen Jahr erneut wieder keinen Kontakt mehr gehabt hatte. Irgendwann (die Halbwertszeit liegt bei ca. vier Jahren) entscheide ich dann definitiv, die Person aus meinem aktuellen Leben zu streichen.
Diese Ausgänge in meiner Freunde-Statistik wurden früher locker ersetzt durch Neuaufnahmen. Je älter ich jedoch werde, desto geringer wird die Anzahl der Neueinträge. Habe ich meinen Freundeskreis fürs Leben somit gefunden? Was passiert, wenn das Inspektionsresultat weiterhin jedes Jahr negativ ausfällt? Stehe ich im Alter irgendwann alleine da?
Es bleibt mir immerhin die Hoffnung, dass diejenigen Menschen, welche ich heute neu in mein Adressbuch aufnehme, länger darin verbleiben werden, als viele derjenigen, die ich mit 25 eingetragen habe. Diese Theorie muss sich jedoch erst noch beweisen.
Eine Personengruppe hat auf alle Fälle in der letzten Zeit massiv an Einträgen gewonnen. Mit jedem Jahr weilt mehr medizinisches Personal in meiner Agenda! War früher mit etwas Glück einzig der Hausarzt aufgeführt, so finden sich mittlerweile Kniespezialisten, Augenärzte, Ernährungsberaterinnen, Shiatsu-Fachfrauen sowie Physiotherapeutinnen Seite an Seite in meinem Adressbuch. Und auch der Platz für die Spitex-Betreuerin ist bereits reserviert.
Die Gefahr, im Alter alleine dazustehen, dürfte somit gebannt sein.
* An dieser Stelle soll ein für alle Mal festgehalten werden, dass in der Kolumne «Vor dem Büro» mit der Verwendung der männlichen Form implizit auch die weibliche gemeint ist. Aus Übersichtsgründen, sowie weil die Sekretariatswelt ohnehin vom weiblichen Geschlecht dominiert wird, verzichte ich auf die explizite Nennung der weiblichen Form.
Die Kolumne „Vor dem Büro“ erschien von 2009 bis 2013 in der Letzten Pendenz, dem Mitarbeiter-Magazin der Staatsanwaltschaft Zürich. Staromat schilderte darin die Welt der Justiz aus den Augen einer männlichen Sekretärin.