Im Bett mit dem Chef
Mein Chef tyrannisiert mich! Nicht nur während der Arbeitszeit im Büro (dort ist dies ja quasi sein Job), nein, ich kriege meinen Boss auch zuhause nicht mehr weg. Neuerdings hatte ich ihn sogar am morgen früh schon im Bett! Jetzt aber der Reihe nach.
Alles begann bei einem harmlosen Apéro vor ungefähr drei Monaten. Ich hatte meine bald 2jährige Tochter mit dabei und alles wäre hier nicht der Rede wert gewesen, hätte nicht mein Chef mit meinem kleinen Sonnenschein zu blödeln begonnen. Er liess sie seinen Finger packen und sofort versuchte die Kleine, ihn mit voller Kraft zu sich zu ziehen. Nach einer kurzen Hin-und-her-Phase gab mein Chef gekünstelt auf und fiel mit einem erschöpften „Hach“ zu ihr hin. Da er für diese oscarwürdige Schauspielleistung ein quietschendes Gekicher erntete, wiederholten die beiden dieses Spielchen so ziemlich den ganzen Apéro lang.
Die nächsten Tage verbrachten wir damit, dass unsere Tochter immer wieder begeistert „Jérôme! Jérôme!“ rief – sie hatte sich sogar seinen Namen eingeprägt! – und wir ihr den Finger hinhalten mussten. Es erklärt sich von selbst, dass unsere darauffolgende Performance nicht im Entferntesten ähnlichen Anklang fand wie diejenige des Original-Blödlers, aber mangels Alternative griff sie dennoch immer wieder auf uns zurück.
Und vor wenigen Tagen öffnete ich verschlafen meine Augen und sah meinen Finger schon längst gepackt von meiner hellwachen Tochter, welche mich mit „Jérôme! Jérôme! Blödsinn!“ anstrahlte.
Nicht, dass ich etwas gegen meinen Chef hätte, aber morgens um 6 Uhr hat dieser nun wirklich nichts in meinem Bett zu suchen!
Der Chef ist jemand, der früh kommt, wenn man zu spät ist und spät kommt, wenn man zu früh ist.
Ohnehin ist die Beziehung zu seinem Chef etwas sehr Spezielles. Zieht man die Schlafstunden ab (diejenigen zuhause, nicht die im Büro), sieht man ihn öfter als die eigene Frau. Und irgendwie ist das Verhältnis zu ihm ähnlich wie dasjenige, das man als Kind zu den eigenen Eltern hatte. War man sich damals doch auch stets sicher, diese hätten einem tatsächlich geglaubt, wenn man ihnen eine Ausrede aufgetischt hatte.
Weshalb braucht es überhaupt einen Chef? Hätte man nicht, nachdem man Eltern, Kindergärtnerin, Lehrer und Lehrmeister durchlaufen hat, endlich einmal Anrecht auf ein bisschen eigenständige Freiheit? Das Ganze bringt ja auch dem Chef selbst überhaupt nichts, hat er seinerseits doch ebenfalls wieder einen Chef, welcher einen Chef hat usw. Wer ist denn überhaupt mein oberster Chef? Markus Notter? Eveline Widmer-Schlumpf? Justizia? Gott?
Fragen über Fragen und keine Antworten in Sicht. Eine Frage hätte ich jedoch schon noch gerne rechtzeitig beantwortet: Wenn ich am Telefon für den Chef lüge, dass er gerade keine Zeit habe, wer kommt dann nicht in den Himmel, ich, der Chef oder wir beide nicht?
Bei Licht besehen ist auch ein Leithammel nur ein Schaf
Die Kolumne „Vor dem Büro“ erschien von 2009 bis 2013 in der Letzten Pendenz, dem Mitarbeiter-Magazin der Staatsanwaltschaft Zürich. Staromat schilderte darin die Welt der Justiz aus den Augen einer männlichen Sekretärin.