Die Gedanken der anderen
Ab sofort belästigt Staromat seine Umwelt auch via Printmedien. 4 mal jährlich verfasse ich eine Kolumne über mein Leben als Sekretariats-Bürogummi, welche in der Letzten Pendenz erscheint, einem Magazin für die Staatsanwaltschaften des Kantons Zürich. Da der grössere Teil der Logorö-Leserschaft nicht unbedingt Zugriff auf diese Publikation haben wird, gibt’s die Texte hier auch online.
Die Gedanken der anderen
Kürzlich habe ich mir furchtbar den Kopf angestossen. Ich kam mit der üblichen 15minütigen Verspätung ins Büro und versuchte mit einem Stapel Post in der einen und einem brühend heissen Kaffee in der anderen Hand irgendwie den Schlüssel ins Schloss zu bringen. Da knallte es. Mein Kollege öffnete die Tür von innen etwas gar schwungvoll und ich hatte keine Chance mehr auszuweichen.
Nicht, dass dies jetzt ein aussergewöhnliches Ereignis gewesen wäre. Diese Szenerie spielt sich bei uns in regelmässigen Abständen ab, und – nur um dies festzuhalten – nicht immer bin ich derjenige, welcher die Tür abbekommt. Speziell war an diesem Morgen jedoch der Fakt, dass ich nach dem Schlag plötzlich die Gedanken der anderen Menschen lesen oder besser gesagt hören konnte!
Statt wie üblich „Ou, sorry, häsch dir weh gmacht?“, sagte mein Kollege nämlich „Cha dä Tubbel nöd ufpasse?“ während er mich vom Boden auflas.
Um zu testen, ob das mit dem Gedankenlesen auch wirklich funktionierte, fragte ich meinen Chef, ob ich ihn kurz stören dürfe. Und wirklich! „Wenigschtens am Morge früeh chönnt er mich in Rueh lah!“ kam parallel zum üblichen „Aber sicher, keis Problem“ aus seinem Büro.
Wow! Das sah nach einem äusserst interessanten Arbeitstag aus.
In der folgenden Pause konnte ich dem „Gespräch“ nicht wirklich folgen, da alle wirr durcheinander dachten. „Läck bin ich müed!“ – „Söll ich ihre ächt säge, dass sie Joghurt a dä Nase hät?“ – „Hüt gang ich glaub scho am Vieri hei!“ – „I’m walking on sunshine yeah yeah“ etc.
Danach stand die Befragung eines Verkehrssünders auf dem Programm, was sich ziemlich schwierig anging, da man als Protokollführer nur schreiben sollte, was die Leute sagen, nicht aber, was sie denken.
Der Angeschuldigte: „Ich hab’ das Auto ehrlich nicht kommen sehen!“ („Wie sollte ich auch? Ich war ja gerade am SMS schreiben.“)
Der Verteidiger: „Kann ich kurz auf die Toilette?“ („Ich halt’ sein Geplapper im Kopf nicht mehr aus!“)
Der Staatsanwalt: „Können Sie mir den Ablauf noch einmal ganz genau schildern?“ („Wenn ich beim 18. Loch gestern bloss den Putt nicht am Loch vorbeigeschoben hätte…“)
An sich war mir ja bereits schwindlig, doch dann ging’s auf Level 2:
Die Tastatur fluchte: „Hör endlich auf, so aggressiv auf mir rumzuhacken!“
Der Wandkalender murrte: „Dezember 2008? Würde mich mal einer umblättern bitte?“
Das Strafgesetzbuch klagte: „Warum liest mich hier bloss keiner?“
Einzig die Topfpflanze sagte bloss „Aaaaaaaarghhhh!“, bevor sie definitiv vertrocknete.
Als Protokollnotiz tippte ich „Ende der Einvernahme: jetzt“ und verliess das Büro.
Zuhause angekommen, schlug ich sicherheitshalber den Kopf zwei drei Mal gegen die Haustür, bevor ich sie öffnete. Es funktionierte! Meine Tochter strahlte mich an, meine Frau begrüsste mich freundlich. Sonst nichts.
Wen interessieren denn schon die Gedanken der anderen?
Die Kolumne „Vor dem Büro“ erschien von 2009 bis 2013 in der Letzten Pendenz, dem Mitarbeiter-Magazin der Staatsanwaltschaft Zürich. Staromat schilderte darin die Welt der Justiz aus den Augen einer männlichen Sekretärin.